Demografische Entwicklung Deutschland

Alterung bedroht Deutschlands Wohlstand: Wirklich?

Ja, Deutschland vergreist. Erstens gibt es immer mehr Alte. 1950 war einer von hundert Deutschen 80 Jahre alt oder älter. Heute sind es bereits mehr als 5 Prozent der Bevölkerung. Und bis 2030 dürften hierzulande 6,2 Millionen über 80 Jahre lang leben. Fast zehnmal mehr als Mitte des letzten Jahrhunderts. Zweitens werden die Alten immer älter.

1950 lag die Lebenserwartung für die damals 60-jährigen Männer noch bei 16 Jahren und für Frauen bei 17 Jahren. Die heute 60-jährigen Männer dürfen hingegen damit rechnen, noch mehr als 21 zusätzliche Jahre zu leben, Frauen sogar 25 Jahre. Ein Ende der weiteren Verlängerung der Lebenszeit ist (glücklicherweise!) nicht in Sicht. Auch künftig dürfte sich die Lebenserwartung der über 60-Jährigen pro Dekade um ein weiteres Jahr verlängern.

Schrittweise drängt der Mensch den Tod nach hinten.

Schrittweise drängt der Mensch den Tod nach hinten. Wer heute geboren wird, darf hoffen, als Frau über 83 Jahre und als Mann über 78 Jahre alt zu werden. Das sind für Mädchen über vier Jahre mehr als für ihre Mütter und für Jungs sind es über fünf Jahre mehr als für ihre Väter. Die Neugeborenen von heute dürften etwa zwölf Jahre länger leben als ihre zu Ende der 1950er Jahren geborenen Großeltern. Das ist großartig. Vor allem, weil die Deutschen von heute auch deutlich länger gesund bleiben als ihre Vorfahren.

Medizin, Verhalten und Digitalisierung sind die Alchemie für ein scheinbar ewiges Leben. Man isst gesund, treibt Sport, gibt mehr Geld aus für Prävention und Therapie. Anstatt den Rücken selber krumm zu machen, sind es zunehmend Roboter, die schwere Lasten schleppen und rund um die Uhr körperlich harte, gefährliche, gesundheitsschädigende Arbeiten erledigen. Wunderpillen und Anti-Age-Technologien schaffen erfreulicherweise die Voraussetzungen, den Gesundheitszustand aller – insbesondere aber der Älteren – zu verbessern und mehr Menschen denn je ein gesundes Leben bis ins Greisenalter zu ermöglichen.

Selbst schwere Erkrankungen, gravierende Kreislauf- oder Herzprobleme können heute erfolgreich bekämpft werden. Und »Ersatzorgane aus der Petrischale« versprechen bereits die nächste medizinische Revolution. Sie wird es ermöglichen, aus eigenen Stammzellen identische Duplikate aller Organe herzustellen. Geht mit Herz oder Niere was schief, holt man sich lange schon vorproduzierten Ersatz aus dem Eisschrank und ist nicht mehr auf fremde Spenderorgane angewiesen.

Die Gesellschaft vergreist zwar, aber sie altert nicht wirklich.

So richtig also die Annahme einer alternden Gesellschaft ist, so falsch ist ebenso offensichtlich die Folgerung, dass dadurch der Wohlstand Deutschlands gefährdet sei. Denn die Gesellschaft vergreist zwar, aber sie altert nicht wirklich. Die Alten von morgen haben mit ihren Großeltern etwa so viel gemeinsam, wie das Telefon der 1950er Jahre mit dem Smartphone von heute.

Alter bedeutet immer weniger Gebrechlichkeit, Vereinsamung, Unbeweglichkeit oder Hilfsbedürftigkeit. Viele bleiben bis ins Greisenalter aktiv und leistungsfähig. Sie beginnen nach dem Berufsleben neue Karrieren in Politik und Ehrenamt. Sie schreiben sich an Universitäten als Studierende ein, streben einen Abschluss an und manche wollen noch promovieren. Einige werden in fortgeschrittenem Alter sogar noch einmal Vater. Noch nie hat das Geburtsjahr so wenig über Verhalten, Wünsche und Möglichkeiten ausgedrückt.

Die Alten von morgen werden fast eine Generation länger jung bleiben als ihre Eltern.

Die Alten von morgen werden fast eine Generation länger jung bleiben als ihre Eltern. Waren Mitte des letzten Jahrhunderts die über 60-Jährigen vom langen Leben gezeichnet, fahl, grau und von harter Industriearbeit körperlich ausgelaugt, beginnt der physische und psychische Alterungsprozess heute wesentlich später, bei vielen erst ab dem 80sten Geburtstag.

Die Deutschen werden zwar länger leben, aber sie werden deswegen nicht länger pflegebedürftig oder bettlägerig sein als ihre Vorfahren. Im Gegenteil: Immer mehr werden uralt, bleiben aber bis ins hohe Greisenalter gesund, beweglich und in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Für die meisten Rentnerinnen und Rentner kann das Pflegeheim warten, bis sie weit über 80 Jahre alt sind. Anders als von vielen befürchtet, wird die individuelle Pflegebedürftigkeit nicht dramatisch ansteigen, sie verschiebt sich nur – parallel zur steigenden Lebenserwartung, also etwa eine Dekade (und zunehmend länger) – nach hinten.

Alterskosten werden nicht zunehmen, weil die Menschen länger leben.

Um es klar und deutlich zu formulieren: Die mit Gebrechlichkeit und Pflegebedürftigkeit zusammenhängenden Alterskosten werden nicht zunehmen, weil die Menschen länger leben werden – sondern möglicherweise deswegen, weil sich mehr Ältere für ihre letzten Jahre mehr Geld zur Seite gelegt haben und weil die Medizintechnik mehr zu leisten im Stande sein wird. Das aber hat weniger mit der demografischen Alterung als mehr mit Vermögenseffekten und neuen technologischen Möglichkeiten zu tun.

Das Augenmerk braucht also gar nicht so sehr dem Neubau klassischer Pflegeheime zu gelten. Dafür wird es nicht notwendigerweise einen steigenden Bedarf geben. Es sollte vielmehr stärker auf einem Ausbau seniorengerechter Wohnungen, Alters-WGs, Mehrgenerationenhäusern und betreutem Wohnen liegen.

Klug ist es, möglichst rasch die Chancen und Möglichkeiten einer alternden Gesellschaft nutzbar zu machen.

Es ist einfältig, über die Vergreisung Deutschlands zu lamentieren. Sie kommt, und nichts – auch nicht die Zuwanderung – wird sie verhindern, sondern höchstens leicht bremsen können. Klüger ist es deshalb, möglichst rasch die Chancen und Möglichkeiten einer alternden Gesellschaft nutzbar zu machen. Die Rahmenbedingungen sollten auf die jungen Alten des 21. Jahrhunderts und nicht aus ideologischen Gründen auf das Altenbild der Vergangenheit mit in weit jüngeren Jahren alt gewordenen Großeltern ausgerichtet sein. Dann wird die Vergreisung nicht zum Fluch, sondern zum Segen für Deutschland.

 

  • Portrait Prof. Dr. Thomas Straubhaar

    Prof. Dr. Thomas Straubhaar

    Thomas Straubhaar stammt aus der Schweiz, ist Professor für Volkswirtschaftslehre der Universität Hamburg und Direktor des Europa-Kollegs Hamburg sowie Fellow der Transatlantic Academy in Washington, D. C. Nach Studium und akademischen Stationen u. a. in Bern, Konstanz, Basel, Freiburg i. Br. und Hamburg war Straubhaar von 1999 bis 2014 Präsident des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs (HWWA) und danach Leiter des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI). Er arbeitet u. a. über internationale Wirtschaftsbeziehungen und Bevölkerungsökonomie.

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